John und Jen in Bielefeld © Bettina Stöß
John und Jen in Bielefeld © Bettina Stöß
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Theater

Deutsche Erstaufführung des Musicals „John und Jen“ im TAM DREI in Bielefeld

Bruder gegen Schwester – Sohn gegen Mutter

Mit sechs Jahren bekommt Jen 1952 einen kleinen Bruder John. Beide wachsen in schwierigen Familienverhältnissen auf, das Weihnachtsfest wird ruiniert, weil die Eltern streiten und John bekommt schon mal Prügel vom strengen Vater. Kein Wunder, dass Jen alles daransetzt, ihren Bruder zu beschützen. Obwohl der kleine Bruder bei Sportveranstaltungen und dem ersten Freund auch ganz schön nervt. Als Jen ihr Studium in New York beginnt, verlieren sich beide aus den Augen. Jen zelebriert auf dem Uni-Campus ein befreiendes Hippie-Leben, während John sich unter dem Einfluss des Vaters freiwillig zur Armee meldet. Bei ihrem Wiedersehen merken die beiden, dass sie Welten trennen und es kommt zum Streit, bei dem es keine Chance zur Versöhnung gibt, denn John fällt im Vietnam-Krieg.

1972 bekommt Jen einen Sohn, den sie nach ihrem toten Bruder benennt. Bei ihm will sie alles richtig machen, er soll behütet aufwachsen, obwohl sie sich bereits von Johns Vater getrennt hat. Jen verpasst kein Baseball-Spiel ihres Sohnes und schenkt ihm den Fanghandschuh seines Onkels. Doch John nervt der ewige, gluckenhafte Beschützerinstinkt seiner Mutter. Er hat eigene Träume für sein Leben nach seinem Schulabschuss und beide müssen entscheiden, wer für den anderen seine Ziele aufgibt…

Nach dem Buch von Tom Greenwald (Gesangstexte) und Andrew Lippa (Musik, ebenfalls aus seiner Feder stammen „The Addams Family“, „Big Fish“, „The Wild Party“ und „You´re A Good Man, Charlie Brown“) entstand das 2 Personen-Musical bereits 1993 für Connecticut und 2 Jahre später für den Off-Broadway. Zum 12. Geburtstag des Stückes erlebte es 2015 ein Revival am Off-Broadway und ist seit dem 23.02.18 erstmals in der deutschen Übersetzung von Timothy Roller im ca. 80 Zuschauer fassenden Theater am Alten Markt TAM DREI in der Spielzeit 2017/18 in Bielefeld zu sehen. In der Inszenierung von Nick Westbrock spielen Michaela Duhme („BurnOut“ in Berlin, „Avenue Q“, „Bonnie & Clyde“, „Company“, etc. am Theater Bielefeld) die große Schwester und Übermutter Jen sowie Benedikt Ivo („Tim Thaler“, „Bonnie & Clyde“, „Avenue Q“) den nervigen Bruder und den gehorsamen Sohn John. Beide nehmen die Zuschauer auch ohne Mikrophon-verstärkte Stimmen auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle mit, bringen uns bei diversen Sportevents zum Lachen und bei den Finalen in beiden Akten auch nicht selten tatsächlich zum Weinen. Während Michaela Duhme glaubwürdig einen Zeitraum von 40 Jahren in rund 2 Stunden schauspielerisch umspannt, überzeugt Benedikt Ivo gleich zwei Mal hintereinander vom Baby bis zum Teenager - ohne, dass es bei der Wiederholung der Jugendzeit im zweiten Akt auch nur ansatzweise langweilig wird. Das Musical kommt dabei fast ohne gesprochene Dialoge aus. Die Musik ist eher text-orientiert und setzt dabei weniger auf einprägsame Melodien, ist unter der versierten musikalischen Leitung von William Ward Murta (Piano) mit Sigurd Müller (Violoncello) und Arndt Hesse (Drums) aber immer unterhaltsam und erfreulich abwechslungsreich. Die Bühne beherrscht eine „Traumpyramide“, an der John und Jen ihre Erinnerungen als Fotos heften und zwei Black Boxen für kleine Requisiten. Die Kostüme (ebenfalls von Mareen Biermann) durchzieht als roter Faden die Farbe Orange. 

„John und Jen“ ist weder fulminante Komödie noch großes Drama, sondern hat in perfektem Gleichgewicht von beidem etwas und erzählt eine typisch amerikanische Familiengeschichte, die aber irgendwie auch in jedes andere Land passen würde. Ein Pflichtprogramm für alle Geschwister? Nein, auch Einzelkinder können und dürfen mit John und Jen lernen, Verantwortung zu übernehmen, aber auch im richtigen Moment loslassen zu können.

© Text: Stephan Drewianka, Produktionsfotos: Bettina Stöß, Schlussapplaus-Fotos: Stephan Drewianka; dieser Bericht erschien ebenfalls in der Zeitschrift Blickpunkt Musical, Ausgabe 93 (02-18, März-Mai 2018)